Bild: erhören. Porträt Axel Nagel II. Mischtechnik auf Leinwand. 60 x 100 cm. 2022
Werkbrief Oktober 2022
… erhören
„ Das Sehen ist, genau genommen, eine Berührung auf Distanz.“
(Hans Belting: Florenz und Bagdad, eine west-östliche Geschichte des Blicks.)
Das Gesicht
Wir sind es von Kindheit her gewohnt, in Gesichtern zu lesen. Sie sind für unsere Wahrnehmung offene Bücher und Brücken der Kommunikation, Landschaften, in denen wir siedeln können.
Gesichter sprechen schon, ohne etwas zu sagen.
In einem offenen Gesicht gibt die feinste Mimik Auskunft über das innere Strömen der Empfindungen, über Reaktionen und Absichten.
Das menschliche Gesicht ist – auf so kleinem Raum – das komplexeste Formgefüge im Universum.
Es ist somit die anspruchsvollste und schwierigste Aufgabe, das menschliche Gesicht mit der zeichnenden Hand ins Bildnerische zu übersetzen. Beim Porträtzeichnen ist schon der Bruchteil eines Millimeters – etwa bei der Mundlinie – entscheidend. Das kann den gesamten Ausdruck verändern. Ich wage es dennoch immer wieder (vielleicht grade deshalb), mich auf ein Gesicht einzulassen.
Als LISCH mich fragte, ob ich ein Porträt von Axel malen würde – sie wolle es ihm als Überraschung zum Geburtstag schenken –, sagte ich zu. Ich kenne Axels markantes Gesicht, kenne ihn als inspirierenden Musiker, tiefsinnigen Liedermacher und anregenden Gesprächspartner. Ich ließ mich auf dieses Abenteuer ein.
Sie kamen zum verabredeten Termin – Axel mit verbunden Augen – in den Frauenhof, um das Geheimnis zu lüften. Beim ersten Treffen entstanden einige Skizzen und Fotos, wir vereinbarten den ersten Sitzungstermin.
Ich stimmte mich darauf mit Axels Musik ein und hörte seine aktuelle CD „CASA ANANDA“, was so viel heißt wie: Haus des Glücks.
Drei Augen
Beim Zeichnen sind drei Sichtweisen aktiv, die ineinanderwirken und sich ergänzen: Ich sehe gleichsam mit drei Augen.
1. Der Blick ist lichtschnell, „klickschnell“.
2. Das Sehen beim Zeichnen ist ein langsamer Entscheidungs- und Deutungsprozess. Dabei beeinflusst die Hand die Geschwindigkeit und den Raum des Sehens.
3. Das Schauen ist offen, unmittelbar, zeitlos – ohne zu werten. Es werden die tiefen, existenziellen Impulse, das seelische Wesen wahrgenommen.
Erste Sitzung
In meiner inneren Vorbereitung schälte sich bereits heraus, dass ich zunächst direkt, in klassischer Weise ohne Fotoprojektion zeichnen würde. In welcher Technik, welchem Format ließ ich offen. Aufgespanntes Papier, Leinwand und Karton waren vorbereitet.
Wir trafen uns im Frauenhof zur ersten Sitzung – die eine Stehung wurde: Ruhig steht Axel vor der Wand, die mit Packpapier bespannt ist, und schaut durch die offene Ateliertür ins Grüne. Braune Kreide und wenige Pastellfarben spielen sich mir in die Hände. Der stabile Karton wurde zum Bildträger. Einmal begonnen, gab es kein Zurück mehr.
Das Zeichnen
Mich interessiert, was ist: die Entdeckung des Offen-Sichtlichen. Unmittelbar schauen und handeln.
Meine Wahrnehmung ist ganz Auge … das Auge ganz Hand … die Hand ganz Axel.
Sie transformiert die im Augenblick wahrnehmbare Ganzheit in einen zeitlichen Prozess. Dadurch wird wiederum das Sehen vertieft. Sein Gesicht wird nach und nach zu etwas Vertrautem, wie ein Gedicht, das man auswendig lernt und dadurch immer besser versteht.
Ich nehme Axels Präsenz auf und übersetze sie in Bewegungen, die sich als Spuren auf dem Karton zu etwas verdichten, das in Resonanz zu ihm steht, denn von seinem Gesicht werden diese Bewegungen unmittelbar ausgelöst. Er ist passiver Sender, ich bin aktiver Empfänger.
Mit Pastellkreiden und großen Bewegungen wird das Gesicht auf dem Karton entworfen. Dann beginnt ein Suchen und Finden der Proportionen, der Ähnlichkeit und des Ausdrucks. Der Schwung der Stirn … die Form der Nase … die Stellung der Augen … die Position der Ohren … die feindifferenzierte Linie des Mundes … der Bart … die Haltung des Halses. Ich zeichne ihn im Halbprofil, denn der direkte, fixierende Blick ist für mich weniger stimmig als sein Blick ins Weite, Offene, Freie. Bis schließlich jedes Detail so erarbeitet ist, dass sich darin das Ganze zeigt.
„Du musst dich als Maler auf das Wesentliche konzentrieren – also aufs Ganze, das sich in jedem Detail offenbart“, das steht auf meiner Atelierwand.
Das innere Gesicht
Kann ich etwas in diesen Zeichen-Spuren erkennen? Schaut mich schon etwas Axeliges daraus an? Etwa sein inneres Antlitz, das seinen Ausdruck – vom Säugling bis zum Greis – bestimmt? Ist es durch die veränderlichen Gesichter der Zeit (und Masken aus kollektiven Identitäten und Außen-Images) überhaupt erkennbar, spürbar?
Ich weiß, dass ich den Porträtierten nur erfassen und schließlich auch fassen kann, wenn es gelingt, das Unfassbare des menschlichen Daseins mit zu malen.
Ich bin im Zustand des Anfangs. Ich fange die Eindrücke und Impulse, die von Axels Gesicht ausgehen, mit den drei Augen auf und übertrage sie auf die empfangsbereite Leere des Hochformats.
„Das Sehen ist, genau genommen, eine Berührung auf Distanz.“ Wie stimmig ist doch dieser Satz! Die Berührung auf Distanz verkörpert sich nach und nach als Bild.
Parallel, und auch später beim Spaziergang, mache ich Fotos, mit denen ich ohne seine Anwesenheit weiterarbeiten kann. Ich zeichne ihn bei dem Konzert in Ellwangen, (Bob Dylan Projekt mit Ulrich Brauchle, Mattias Kehrle und Axel Nagel.)
Der Blick, das Sehen und das Schauen sind aktiv. In einer dieser Fotografien scheint etwas von ihm auf, das sein unsichtbares Wesen ausdrückt. Ich folge dieser Spur. Ein zweites Porträt entsteht (Eingangsbild).
Epilog: Maske-Gesicht-Antlitz
Das Gesicht: unverwechselbar … einmalig … wiedererkennbar … nackt und entblößt … mit
sich selbst gezeichnet. Was, das bin ich … das soll ich sein?
Was bleibt noch vom Gesicht, wenn ich die Rollen, die es spielt, abziehe? Wenn all die Masken wegfallen? Wenn alles Zugeströmte, Erlernte verschwindet und nur noch das Gefäß übrig bleibt? Ist es denn schon eine fertige Eigenform – dieses Gesicht? Oder weniger Form – vielleicht eher Formel für den Zugang zu den eigenen innern Vermögen? Das Gesicht, durch das kollektive Kräfte strömen?
Wenn es ganz still wird, kann aus dem Ur-Grund das Antlitz der Seele strahlen.
Aus all dem bildet sich nach und nach das Gezeichnete Gesicht, in das sich das Leben einschreibt und in dem es sich ausdrückt.
Wie kannst du Gesicht sein für so ein Innen
Darin sich immerfort das Beginnen
Mit dem Zerfließen zu etwas ballt?
Hat der Wald ein Gesicht?
Rainer Maria Rilke