27. März 2020, Werktagebuch, Corona – und was es sonst noch gibt

WAHR SCHEIN LICH

Drei Uhr Morgens. Sternenfunkelnde Stille. 

Jedes Jahr staune ich über die dynamische Blatt-Formen dieser Blume die ein klares Pentagramm ergeben. Für den gestrigen Bild-Eintrag in Buch 44 nahm ich das kleine violette Immergrün, Vinca minor, mit ins Atelier um es zu zeichnen.

Corona – und was es sonst noch gibt. 26.3.2020. Buch 44. Work in progress

Zeichnen hat verschiedene Stufen. Zunächst ist es ein tätiges Erkunden. Diese Stufe hat fälschlicherweise keinen guten Ruf. Es läuft unter „ab-zeichnen“, was so viel meint wie fantasieloses Imitieren. Doch das trifft nicht zu. Im Gegenteil: ich musst das Vor-Bild auf dem leeren Blatt handelnd begreifen, quasi neu erfinden. Das wird zur Sehübung, zum „Gym-Studio für Wahrnehmungstraining“, zum Augen- und Sinnöffner.

Corona – und was es sonst noch gibt. 26.3.2020. Buch 44. Work in progress

Normalerweise sehen wir was wir wissen. Beim Zeichnen nach einem Vor-Bild lernen wir zu sehen – über das Vorwissen hinaus. Zeichnend wird das Vorbild zur Partitur einer universellen Natur die in Gestalten spricht. Durch den Zeichenprozess transformiert sich das Ab-Bild zum In-Bild. 

Ergriffen von der rätselhaften Schönheit seiner winzigen Gestalt kann es zum „visuellen Gebet im KUNST KLOSTER art research“ werden, zum Sinn-Bild durch das sein Ur-Bild leuchtet, wie ein ferner Stern in dieser klaren Nacht.

WAHR SCHEIN LICH. 43 x 55 cm. Mischtechnik auf Leinwand. 2020.
Arbeitsplatz. Work in progress

WAHR SCHEIN LICH

Ein weiters Bild „für Indien“ das gestern, nach einer Buch-Zeichnung vom 9.5.2017, entstand befasst sich ebenfalls mit der Wahrnehmung und dem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität.

Derzeit lese ich ein wissenschaftliches Buch zur Macht der Imagination, der Vorstellungskraft. 

Der Autor, Fred Mast, unterscheidet zwischen Wirklichkeit und Realität. 
Er zeigt, dass die Wahrnehmung nicht nur von Sinneseindrücken, sondern von inneren Simulationen und vorausschauenden Interpretationen der komplexen Wirklichkeit bestimmt werden. Das gibt der subjektiven Erfahrung innerer Wahrnehmung dem „dritten Auge“ wissenschaftliche Grundierung. 

Kurz gesagt: wir deuten aufgenommene Sinnesdaten der Umwelt nach unseren inneren Vorstellungen. So erzeugen wir aus der komplexen Wirklichkeit unablässig, durch Selektionen, jene Realität in der wir leben, denken und fühlen. Realität wird zum Wahrscheinlichkeitsaspekt der umfassenden Wirklichkeit. 

WAHR SCHEIN LICH. 43 x 55 cm. Mischtechnik auf Leinwand. 2020. Work in progress

Diese wahrscheinliche Realität ist ein Ausschnitt der Wirklichkeit, wenn auch ein in sich schlüssiger und folgerichtiger, so wie sich die einzelnen Spektralfarben vom farblosen Licht herleiten. Wenn eine Einzelfarbe den Anspruch auf die ganze Wirklichkeit erhebt wird dies, trotz der Gültigkeit ihrer Abstammung, falsch. Das führt zur „Farbe-bekennenden-Rechthaberei“ in unzähligen Aufsplitterungen, die sich gegenseitig anfeinden. Aus Splittern wird kein Ganzes mehr, auch wenn die Splitter vom Ganzen herkommen wie ein zerbrochener Spiegel in dessen Fragmenten sich dennoch die eine Wirklichkeit spiegelt.

WAHR SCHEIN LICH. 43 x 55 cm. Mischtechnik auf Leinwand. 2020. Ausschnitt.

Das Corona-Phänomen derzeit zeigt, als erstaunliche Nebenwirkung, dass die „Farben-bekennenden-Rechthaber“ auch andere Farben gelten lassen müssen, weil es um eine übergeordnete Wirklichkeit geht die zu bewältigen ist und die sich in allen Splittern gleichzeitig spiegelt.

Phänomenal auch die eindrucksvollen Leistungen der Institute, die aufgrund bestimmter konkreter Daten in der Lage sind, die weitern Verläufe der Epidemie voraus zu berechnen. Sie simulieren damit, aus der komplexen Wirklichkeit, eine zukünftige Realität und greifen Heute zu extremen Einschränkungen, damit diese berechenbare Realität Morgen nicht eintritt. 

Ähnliches gab es nie. Ein neues Blatt in der Geschichte des Menschheitsbuches und jedes einzelne Menschen wird aufgeschlagen. Wie beschriften und bezeichnen wir es? Wie werden wir es später lesen, in einem Jahr? 

WAHR SCHEIN LICH. 43 x 55 cm. Mischtechnik auf Leinwand. 2020. Ausschnitt.

Ich sollte, das bin ich dem Wunder der bewußten Wahrnehmung schuldig, angesichts der suggestiven Corona-Realität die komplexe Wirklichkeit nicht ganz aus Blick und Bewußtsein verlieren. Dazu helfen winzige Blümchen die, indem sie sich dem Licht zuwenden, ihre schöne Gestalt entwickeln. Ob auch die wissenschaftlich belegte Vorstellungskraft hilft sich dem inneren Licht zuzuwenden, vielleicht sogar sich zu wenden?

In Pondicherry würde ich mich jetzt dem Sonnenaufgang über dem Meer zuwenden. Ich kann mir das genau vorstellen, so sehr, dass meine innern Sinnesrezeptoren, die auf äußere Eindrücke reagieren, aktiviert werden, obwohl es noch immer dunkel ist, bis auf den Bildschirm auf dem sich meine morgendliche Gedankenplastik abbildet. 

Früher sagten wir abschätzig Einbildung zu Imagination, Vorstellung und Fantasie, doch Fred Mast zeigt in seinem Buch: „Black Mama, oder die Macht der Imagination“ dass diese subjektive Leistung ein enormes Potenzial an kreativer Gestaltungskraft beinhaltet, mit der wir die umfassende Wirklichkeit zu unserer Realität transformieren können, die uns und andere nährt. 

Ich wünsche einen kreativen Tag, mit gerichteter Vorstellungskraft, 

Der morgige Text wird kürzer! 🙂

( und: Feler bitte entschuldigen und gerne melden.)

Alfred (Bast)

Morgen Arbeitsplatz: Heute

P.S.

Gerne verweise ich noch auf eine aktuelle Arbeit „we-stay-at-home“ einer befreundeten Kollegin, der Illustratorin und Malerin Larissa Bertonasco.

https://bertonasco.de/shop/we-stay-at-home